Gastautorin Anne Körmann-Günther ist Diplom-Pädagogin, Ergotherapeutin seit 2000 mit dem Schwerpunkt Pädiatrie und seit 2011 Heilpraktikerin. Aktuell arbeitet sie in einem Sozialpädiatrischen Zentrum sowie als freiberufliche Ergotherapeutin und als freiberufliche Dozentin an einer Berufsfachschule. Ihr persönliches Herzensthema, welches in die verschiedenen Arbeitsfelder bereits einfließt, ist Neurosensitivität, eher bekannt unter dem Begriff Hochsensibilität. Hier ist ihr Anliegen, die Thematik u.a. für Therapeut*innen und weitere Fachleute wie z.B. (Heil-)Erzieher*innen oder Lehrer*innen bekannter zu machen und dabei auch die neuesten Forschungsergebnisse mit einfließen zu lassen. Ihre Freizeit gehört ihrer Familie, dem Singen, dem Lesen, der Gartenarbeit und dem Yoga.
Lerne noch mehr über Hochsensitivität- besonders als Therapeutin der Ergotherapie und Logopädie in dieser Fortbildung.
Was ist Neurosensitivität bzw. Hochsensitivität?
Bekannter unter dem Begriff der Hochsensibilität gibt es bereits eine Menge an Büchern zu verschiedenen Aspekten dieses Themas, dessen Forschung gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckt. Auch social-Media-Foren für Eltern oder Coaching-Angebote dazu sind vielfältig vorhanden. Eltern scheinen häufig Fragen im Zusammenhang mit einer vermuteten oder bekannten Hochsensibilität ihres Kindes zu haben. Sei es, das die Kinder bereits als Säuglinge als sehr fordernd erlebt werden, eine Eingewöhnung in eine Kita sich herausfordernd gestaltet oder im Schulkontext Schwierigkeiten auftreten können, weil Kinder einen zu hohen Perfektionsanspruch haben, Wettbewerbe ablehnen oder rasch überreizt reagieren, wenn zu viel Input vorhanden ist. Hingegen scheint das Thema fachlich in die Ausbildung von Therapeut*innen bislang kaum Einzug gefunden zu haben.
Gekennzeichnet ist Neurosensitivität durch vier Merkmale, die durch Studien (1) belegt sind:
1. erhöhtes Bewusstsein
2. erhöhte Empathie
3. vertiefte Informationsverarbeitung
4. Neigung zur Überstimulation
Häufig wird nur der letzte Aspekt gleichgesetzt mit Hochsensitivität, was unzureichend ist, da eher ausschließlich mit Nachteilen assoziiert.
Abschließend kann gesagt werden, dass Neurosensitivität ein angeborenes neutrales Persönlichkeitsmerkmal ist, eine Wahrnehmungsfähigkeit. Ob eher die Sonnenseiten oder die Schattenseiten dieses Merkmals überwiegend, hängt von einem komplexen Zusammenspiel mit der Umwelt ab, wobei vor allem auch die frühkindliche Entwicklung als bedeutsam angesehen werden kann. Hier liegt die Chance als Therapeut*in, da wir in der Pädiatrie bereits auf sehr junge Klient*innen treffen.
Was ist eine Hochsensitivität nicht?
- Keine Superpower
- Kein Handicap
- Keine Hochbegabung im kognitiven Sinne
- Keine Schwäche…im Übrigen auch keine Diagnose!
Wie kann ich herausfinden, ob eine erhöhte Neurosensitivität vorliegt?
Durch die aktuelle Forschung ist bekannt, dass Neurosensitivität ein Kontinuum (2) ist. Es gibt verschiedene Ausprägungsgrade der Sensitivität wie gering (20-35%), mittel (41-47%) und hoch (20-35%). Gemeint ist hiermit die Zuordnung zu einer Sensitivitätsgruppe. Anhand der Zahlen ist erkennbar, dass es sich nicht, wie noch bis vor wenigen Jahren vermutet, um eine klassische 20-zu-80-Einteilung handelt, im Sinne von: entweder hochsensibel oder nicht.
Eine Testung dazu kann erfolgen über einen sogenannten Empfindlichkeitstest über www.sensitivityresearch.com
Über diesen ist sowohl eine Selbsteinschätzung (ab 18 Jahren) möglich, als auch die Einschätzung eines Kindes ab ca. 8 Jahren durch Bezugspersonen.
Des Weiteren ist es wichtig zu wissen, dass es zusätzlich zu den genannten Sensitivitätsgruppen auch noch die Möglichkeit gibt, den Typ der Sensitivität (3) zu bestimmen, welcher im Laufe des Lebens veränderbar ist:
- Geringe Sensitivität
- Generelle Sensitivität
- Vulnerable Sensitivität
- Vantage Sensitivität
Mit dieser Art/ Ausrichtung deiner Sensitivität kannst du erkennen, ob die Schatten- oder die Sonnenseiten der Sensitivitätsausprägung überwiegen oder ob sie im Gleichgewicht miteinander sind. Eine erhöhte Sensibilität hat zwei Seiten: Belastungen können als herausfordernd erlebt werden, auf der anderen Seite besteht eine höhere Empfänglichkeit für positive Erfahrungen und Unterstützung.
Im günstigsten Fall hast du dann eine Kenntnis über beides- die Zuordnung zu einer Sensitivitätsgruppe sowie die Art eurer Sensitivität sowie bei Bedarf auch nähere Informationen darüber, wie Patient*innen hier eingeordnet werden können, falls die Frage dazu im Therapiekontext besteht.
Warum könnte es wichtig sein, zu wissen, ob ich selbst als Therapeut*in sowie auch meine Patient*innen über eine erhöhte Sensibilität verfüge(n)?
Vielleicht begegnen dir im Praxisalltag Kinder und Jugendliche, bei denen du zusätzlich zur ärztlichen Diagnose vermutest, dass:
- Neben einer bestehenden AVWS auch noch eine erhöhte Sensitivität im Bereich der auditiven Wahrnehmung bestehen könnte?
- Ob eine taktile Defensivität etwas zu tun haben könnte mit einer deutlich erhöhten Verarbeitung taktiler Reize?
- Du Kinder und Jugendliche mit Depressionen oder Angststörungen begleitest und dich fragst, ob zusätzlich eine erhöhte Sensitivität, welche ja auch emotionale Verarbeitungsprozesse umfasst, vorhanden ist?
- Du mit Kindern arbeitest, welche introvertiert sind und die Diagnose selektiver Mutismus erhalten, deiner Meinung nach jedoch eine bislang unerkannte erhöhte Sensibilität vorliegt?
Für dich selbst als Therapeut*in, um eigene Stärken und Schwächen noch besser zu kennen, eigene Grenzen deutlicher wahrzunehmen und mögliche Potentiale, wie ausgeprägte Empathie in den Therapieprozess mit einfließen zu lassen. Ein Persönlichkeitsmerkmal der erhöhten Sensibilität zu erkennen, zu akzeptieren und vor allem: schätzen zu lernen. Mit diesem Auge auch auf Patient*innen neu schauen lernen. Den Blick dafür zu schärfen, was ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal ist und was eine Störung im Sinne einer klassifizierbaren Diagnose.
Menschen mit einer erhöhten Neurosensitivität unterscheiden sich genauso voneinander wie Menschen mit geringerer Sensibilitätsausprägung, daher können keine Verallgemeinerungen getroffen werden.
Wie kann ich mein Wissen um Hochsensitivität in den Praxisalltag einbringen?
Wenn Patient*innen, die vielleicht primär mit einer Diagnose zu dir kommen, welche sich bei näherem Hinschauen in einem Diagnostikprozess nicht bestätigt und eine bislang unerkannte Hochsensitivität vorliegt, hast du eine Gesprächsgrundlage für Patient*innen selbst, ihre Bezugspersonen, den Kontakt mit Ärzt*innen oder in der interdisziplinären Zusammenarbeit z. B. mit Schule oder Kita. Du kannst fachlich detaillierter Abgrenzungen vornehmen zwischen angeborenen Persönlichkeitsmerkmalen und anderen Konstrukten, welche behandlungsbedürftig sein können, wie z. B. Autismus-Spektrum-Störung oder AD(H)S. Eine erhöhte Kreativität bei dir oder Patient*innen mit Neurosensitivität kann bewusst in einem neuen Licht gesehen werden.
Quellenangaben:
(1) Acevedo, B.P, Aron, E., Aron, A., Sangster, M., Collins, N., Brown, L.L.(2014): The highly sensitive brain: An fMRI study of sensory processing sensitivity and response to other`s emotions. Brain and Behavior, 4 (4):580-594
Bridges, D., Schendan, H. E. (2019): The sensitive, open Creator: Science direct
Andresen, M. Goldmann, P. , Volodina, A. (2018): Do overwhelmed expatriates intend to leave? The effects of sensory processing sensitivity, stress, and social capital on expatriates` turnover intention. European management Review, 15:315-328
(2) Lionetti, F., Aron, A., Aron, E. N., Burns, G. L., Jagiellowicz, J., & Pluess, M. (2018): Dandelions, tulips and orchids: evidence for the existence of low-sensitive, mediumsensitive and high-sensitive individuals. Translational Psychiatry, 8(1), doi: 10.1038/s41398-017-0090-6.
(3) https://sensitivitaetstyp.com/
Besonders empfehlenswert für Therapeutinnen und Therapeuten:
Kontakt
Aus dem Magazin
Minikurs für 0 EUR
Hol dir hier deinen Minikurs zur Sensorischen Integrationstherapie mit Rega Schaefgen für 0 EUR!