Das Zungenband ist ein Thema, das auch in der Logopädie in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Glücklicherweise beschäftigen sich immer mehr Kolleg*innen mit diesem kleinen Band, das so große Auswirkungen haben kann. Denn diese betreffen nicht nur Säuglinge, sondern können auch Kleinkinder, Schulkinder und Erwachsene beeinträchtigen. Eins möchte ich dabei gleich vorwegnehmen: Jeder und jede von uns hat ein Zungenband. Ein Problem entsteht nur dann, wenn das Band so restriktiv ist, dass es die Funktion beeinträchtigt, wobei andere Ursachen ausgeschlossen oder behoben sein sollten.
Die Symptome
Die Symptome, die durch eine eingeschränkte Zungenbeweglichkeit entstehen können, sind relativ weitreichend. Hierbei ist das Zungenband jedoch nie die alleinige Ursache, sondern ein Baustein im Ursachenkomplex. Denn wie genau sich die entstandenen Symptome entfalten, in welche Richtung sich Auffälligkeiten entwickeln, hängt von viel mehr ab; zum Beispiel der genetischen Prädisposition, anatomischen Gegebenheiten, Besonderheiten in der vorangegangenen Entwicklung und vielem mehr.
Saugen (Stillen/Flasche nähren)
Eine eingeschränkte Zungenbeweglichkeit kann die Fähigkeit eines physiologischen Saugvorgangs beim Baby beeinflussen. Wir gehen zunächst vom Saugen an der Brust aus, da dies die physiologische Ernährungsform eines Kindes darstellt. Natürlich heißt das nicht, dass jedes Kind gestillt werden muss. Es sollte motorisch und koordinativ jedoch grundsätzlich in der Lage sein, diese Funktionsabläufe auszuführen. Ist dies nicht Fall, deutet dies auf eine Problematik hin, die näher betrachtet werden sollte. Denn im schlimmsten Fall ist ein Kind auch beim Saugen an der Flasche nicht in der Lage Bewegungsabläufe motorisch koordiniert auszuführen, so dass eine angenehme und vor allem sichere Ernährungssituation entsteht.
Welche Symptome zeigen sich also bei einem funktionseinschränkenden Zungenband?
Da einige der Symptome auch anderer Ursache sein können, ist eine differentialdiagnostische Betrachtung und der Ausschluss dieser extrem wichtig. Dabei steht die Anpassung des Stillmanagements bzw. des Flaschenmanagements, sowie eine körpertherapeutische Begleitung ganz zu Beginn. Die Symptome setzen sich zudem sehr individuell zusammen und schließen sich teilweise sogar aus.
- Schwierigkeiten beim “Andocken” an die Brust
- Vakuumverlust beim Saugen an Brust oder Flasche
- Klicken oder Schnalzen während des Saugvorgangs
- Drooling
- Unruhiges Saugverhalten
- u. a.
Kauen/Beißen/feste Kost
Auch in Bezug auf die Nahrungsaufnahme weicher, halbfester und fester Kost ist eine uneingeschränkte Zungenbeweglichkeit essentiell. Die Symptome reichen von Schwierigkeiten die Nahrung im Mundraum zu bewegen, um sie adäquat zu zerkleinern, über ein physiologisches Schluckmuster bis hin zur Reinigung der Mundhöhle. Häufig begegnen uns in der Praxis außerdem ein bleibender Würgereiz, häufiges Verschlucken, mangelhafte Nahrungszerkleinerung, Reflux, Verstopfung usw. Kinder mit oralen Restriktionen fallen oft durch Picky Eating auf, da sie bestimmte Konsistenzen verweigern oder nur bestimmte Speisen essen.
Schlafen
Welche Zusammenhänge zeigen sich zwischen einer eingeschränkten Zungenbeweglichkeit und Schlaf?
Eine korrekte Zungenruhelage führt zur Aktivierung des N. palatinus an der Papilla incisiva. Fehlt eine derartige Aktivierung des parasympathischen Nervensystems kann es zu einem erhöhten Erregungszustand des Körpers und in der Folge zu weniger erholsamen Schlaf führen. Zusätzlich zählt zu einem der wahrscheinlichsten Symptome eine niedrige Zungenruhelage. In Bezug auf den Schlaf kann diese zu einer Verlegung der Atemwege, sowie in Verbindung mit Mundatmung zu einer Sauerstoffunterversorgung des Körpers führen kann, was Alarmsysteme des Körpers ebenfalls aktiviert und erholsamen Schlaf verhindert. Aus Studien von bspw. Guilleminaut et al. wissen wir, dass funktionseinschränkende Zungenbänder und die daraus entstehenden myofunktionellen Schwierigkeiten in Verbindung mit atmungsbedingten Schlafstörungen stehen können.
Sogenannte Red Flags können Zähneknirschen, Kieferpressen und Schnarchen, sowie ein großes Durstgefühl nachts oder nächtlicher Harndrang bzw. Einnässen ins Schulalter hinein sein.
https://www.enthealth.org/conditions/pediatric-sleep-disordered-breathing/
(abgerufen am 26.06.2023)
Myofunktionelle Fähigkeiten
Als Formgeber des Gesichts, des Kiefers und der Mundhöhle spielt die Zunge als Muskel eine wichtige Rolle. Wir wissen aus zahlreichen Studien, welche weitreichenden Folgen eine myofunktionelle Störung auf das orofaziale System haben kann. Sie reichen von Kieferfehlstellungen, Biss-Auffälligkeiten, Zahnfehlstellungen, die durch muskuläre Dysbalancen, aber auch funktionelle Auffälligkeiten (mit-)versursacht sein können. Das zu kurze Zungenband kann dabei eine mitverursachende Wirkung haben und entweder einige der aufgezählten Auffälligkeiten verursachen oder sie verstärken. Nicht selten führen nicht-behandelte restriktive Zungenbänder dazu, dass Therapieerfolge nicht umfassend und nachhaltig erzielt werden können.
Artikulation
Menschen mit eingeschränkter Zungenbeweglichkeit können zudem Schwierigkeiten mit der Artikulation aufweisen. Einige Studien zeigen Zusammenhänge zwischen artikulatorischen Auffälligkeiten und einschränkenden oralen Bändern. Welche Laute betroffen sind, hängt dabei vom Ansatzpunkt des Zungenbandes ab. Betroffen sein können Laute, wie bspw. /s, t, d/, aber auch /sch, k, g/ oder andere. Einige Patient*innen berichten außerdem nach der Trennung des Zungenbandes davon, weniger Sprechanstrengung zu verspüren und insgesamt deutlicher zu artikulieren.
Auswirkungen auf den Rest des Körpers
Die Auswirkungen oraler Restriktionen beschränken sich aufgrund verschiedenster Verbindungen im Körper (bspw. Faszien) nicht nur auf den orofazialen Bereich, sondern können den gesamten Körper betreffen. Physiotherapeutische, manualmedizinische oder körpertherapeutische Ansätze können in diesen Fällen den interdisziplinären Ansatz zur Behandlung zu kurzer Zungenbänder sinnvoll ergänzen und komplementieren. Diese Sparte spielt jedoch auch umgekehrt eine nicht zu unterschätzende Rolle in Bezug auf differentialdiagnostische Abgrenzung oder als Ergänzung. Denn auch umgekehrt können Dysfunktionen einiger Nerven oder muskuläre Auffälligkeiten die Zungenbeweglichkeit oder Symptome, die in Verbindung mit einer oralen Restriktion stehen, beeinflussen. Haltungsprobleme, wie bspw. das Überstrecken als Baby, aber auch ein in den Nacken positionierter Kopf werden mit oralen Restriktionen in Verbindung gebracht.
https://www.zaghimd.com/fascia-compensations
https://www.defagor.de/betroffene/sonstige-probleme/
(beide abgerufen am 26.06.2023)
Interdisziplinärer Behandlungsansatz
Im Zuge einer ersten ausführlichen Anamnese und Untersuchung lässt sich einschätzen, wie der weitere sinnvolle Weg aussieht. Häufig sind z.B. bei kurzen Zungenbändchen falsche Bewegungsmuster verinnerlicht und Kompensationsmechanismen beteiligt, so dass vorbereitende Übungen und begleitende körpertherapeutische Maßnahmen wichtig sind. Auch eine Vorstellung z. B. beim Kieferorthopäden und HNO-Arzt kann je nach Situation vor bzw. nach einem Eingriff sinnvoll sein. Wann und ob eine operative Behandlung bei einem funktionseinschränkenden Zungenband sinnvoll erscheint, ist von vielen Faktoren abhängig. Dies wird idealerweise in Rahmen der Basisberatung (Stillberatung, Logopädie) besprochen und der weitere Weg aufgezeigt. Die Behandlung einer oralen Restriktion sollte gut begleitet und vorbereitet sein. Dann kann sie in jedem Lebensabschnitt eine sinnvolle und zielführende Intervention sein.
Fachpersonen finden
Der interdisziplinäre Behandlungsweg erfordert ein großes Netzwerk mit Fachpersonal unterschiedlicher Fachpersonen. Um sich mit fortgebildetem Fachpersonal in der Nähe vernetzen zu können, ist die Fachleute-Liste der Deutschen Fachgesellschaft für Behandlung oraler Restriktionen e.V. www.defagor.de (abgerufen am 26.06.2023) hilfreich. Dort sind zudem weiterführende Informationen zu finden.
Gastautorin Michaela Dreißig
Michaela ist akademische Sprachtherapeutin (M.A.) & Still- und Laktationsberaterin IBCLC. Sie ist angestellt bei Logopädie Henkel-Morell und Kopp in Geretsried und Wolfratshausen und behandelt dort u. a. orofaziale Dysfunktionen sowie Saug-, Schluck- und Fütterstörungen. Darüber hinaus begleitet sie in ihrer Familienbegleitung Räuberling (abgerufen am 26.06.2023) junge Familien rund um die Themen Stillen, Beikost, Schlafen und Tragen. Ein besonderes Herzensthema sind die oralen Restriktionen. Ihre Leidenschaft sind Podcasts und Yoga.