Im Gastartikel von Jens Kramer berichtet er von seinen persönlichen Arbeitsschwerpunkten und seiner Arbeit im Verein Stillleben. Dieser eingetragene Verein informiert umfangreich zum Thema Selektiver Mutismus und qualifiziert Therapeut*innen zur “KoMut-Therapeut*in”.

 

Gastautor Jens Kramer ist Diplom-Sonderpädagoge, Förderschullehrer für die Schwerpunkte sprachliche Beeinträchtigungen und sozial-emotionale Beeinträchtigungen und Medizinischer Sprachheilpädagoge und bereit Dozent bei einem memole Onlinekurs.

Er lebt mit seiner Familie in einem Haus im Grünen im Süden von Hannover. Bewegt sich gerne an der frischen Luft, handwerkert gerne und beschäftigt sich intensiv mit seinem Hobby, dem Imkern.

Kompetenzen und Ressourcen der Stimme

Bereits seit 20 Jahren arbeite ich als Dozent für Sprachbehindertenpädagogik und Heilpädagogik an der CJD Schule Schlaffhorst-Andersen in Bad Nenndorf. Neben dem Unterricht bin ich für den diagnostischen Bereich der computergestützten Stimmanalysen zuständig, der mir viel Freude bereitet, weil hier einzelfallbezogen die Kompetenzen und Ressourcen der Stimme unserer Studierenden analysiert werden können und ich hier hilfreiche Hinweise geben kann.

Kooperativen Pädagogik

Der prozessbegleitende förderdiagnostische Blick im Sinne der Kooperativen Pädagogik leitet mich seit meinem Studium essenziell. Dies hat auch dazu geführt, dass ich mich bereits sehr früh über eine lebensweltbezogene Kind-Umfeld-Analyse zu einem Mädchen dem Störungsbild des selektiven Mutismus genähert habt. Mich hat interessiert, wie es dieses Mädchen im Schulalltag so verdächtig unauffällig zu agieren ohne die Sprechsprache nutzen zu müssen. 

Selektiver Mutismus

Im Unterricht als Dozent für Sprachbehindertenpädagogik habe ich mich zunächst anderen Störungsbildern genähert und habe erst nach 5 Jahren an der CJD Schule Schlaffhorst-Andersen auch dieses Störungsbild unterrichtet, weil mir andere zunächst vorrangig bedeutsam waren. Im Rahmen des Unterrichts hat mich dann eine 26jährige Studentin angesprochen, die einerseits sehr verunsichert, andererseits aber auch sehr dankbar war, weil ihr Problem nun im Unterricht einen Namen bekommen hatte, von dem sie vorher nichts gehört hatte. Ihr Anliegen war es, dass es anderen Menschen besser gehen und die Information zu dem Thema selektiver Mutismus gesellschaftlich veröffentlicht werden sollten. Mit anderen Fachleuten bildeten wir dann den Verein StillLeben e.V. und gestalteten Faltblätter für verschiedene Zielgruppen und in diversen Sprachen, sowie unsere Webseite.

Kooperative Mutismustherapie (KoMut)

Der Ansatz, den wir in unserem Team gemeinsam entwickelt haben nennt sich Kooperative Mutismustherapie (KoMut) und orientiert sich an den Grundpfeilern und der uns wichtigen Haltung der Kooperativen Pädagogik sowie systemischen Prinzipien.

Wichtig war es uns dem damals einzigen Konzept der SYMUT (Systemische Mutismustherapie) ein alternatives Konzept gegenüberzustellen, weil dieses nicht unseren Werten entsprach und wir auch von sehr viel Fachleuten erfahren haben, dass sie die Methoden, die hier genutzt werden, oft nicht mit gutem Gewissen folgen mögen. 

Wir hätten gerne ein Konzept gemeinsam mit der TU Dortmund entwickelt, da unsere Haltungen sehr ähnlich sind, aber dies war von den Fachpersonen der Universität leider nicht gewünscht. So gibt es mit den Konzepten DortMut und KoMut nun zwei Konzepte mit geringen Unterschieden. Dennoch kooperieren wir mit verschiedenen anderen Organisationen und auch der TU Dortmund im Interdisziplinären Mutismusforum (IMF) und auch mit der Mutismusselbsthilfe und Boris Hartmann, der den Ansatz SYMUT entwickelt habt, besteht ein sehr guter kollegialer Austausch.

StillLeben

In unserem StillLeben-Team haben wir natürlich über die Jahre sehr umfassende Erfahrungen mit Betroffenen und ihrem Umfeld aber auch mit Anliegen verschiedener Berufsgruppen, gesammelt und auch unser Profil geschärft.

Uns ist eine detaillierte förderdiagnostische Haltung wichtig und hier haben wir ein Screening-Instrument entwickelt: der Deutsche Mutismus Test (DMT-KoMut) und das umfassende Inventar Diagnostische Fragebögen zum Selektiven Mutismus (DiFraMut).

Ausgehend von einer solchen systemischen Erhebung leiten uns die Bausteine der Kooperativen Mutismustherapie.

 

Qualifikation zur zertifizierten KoMut-TherapeutIn

Um die Inhalte näher kennenzulernen bieten wir für dich die Qualifikation zur zertifizierten KoMut-TherapeutIn an und jetzt in der Coronazeit eine Reihe von Webinaren.

Unser Online-Test (DMT-KoMut) ist für dich kostenfrei und dient dazu Fachpersonen aber auch Betroffenen und Angehörigen erste Fragen zu beantworten. Das Diagnostikverfahren DiFraMut kannst du beim Prolog-Verlag erwerben.

Therapeutennetzwerk

Besonders wichtig ist das Therapeutennetzwerk, über das Betroffene wohnortnah Therapeut*innen finden. Wenn du dich hier eintragen lassen möchtest, dann sende uns gerne deine Informationen zu. Nähere Hinweise dazu findest du hier. Über das Netzwerk können dann Betroffene, Eltern oder andere Fachpersonen mit dir in Kontakt treten.

Sehr gerne biete ich auch Inhouse-Schulungen für Teams, Schulen oder Firmen an. Dabei stehen dann i.d.R. spezielle Fälle mit deinen oder euren Anliegen im Zentrum. Hier findest du einige Informationen dazu, wobei das in einer individuellen Absprache natürlich detaillierter sein wird.  

Erfahrungen im echten Berufsleben

Eine sehr spannende Fortbildung habe ich vor kurzem für ein großes Architekturbüro gegeben. Das Büro hat einen neuen Auszubildenden eingestellt, der über herausragende technische Kompetenzen verfügt. In Vorgesprächen stellte sich heraus, dass er massiv von selektivem Mutismus betroffen ist. Das betreuende Team hat sich von mir vorab coachen lassen, damit der Übergang von der Schule hin zum Berufsleben von dem Büro gut gestaltet werden konnte. Ich fand dies herausragend vorausschauend, wie wir es uns als Therapeut*innen oft wünschen würden. Gerade die Übergänge sind für selektiv mutistische Menschen sehr wichtig und in diesem Fall hat sich die Firma ausgesprochen verantwortungsvoll verhalten.

Unser Ziel

Die wertschätzenden Rückmeldungen von Betroffenen, ihren Angehörigen, Fachleuten aber ganz besonders durch die von uns ausgebildeten KoMut-Therapeut*innen motiviert weiter zu machen. Wobei unser primäres Ziel, das Störungsbild selektiver Mutismus in Deutschland bekannt zu machen, sicherlich schon sehr gut erreicht wurde.

Aber es kann natürlich noch viel getan werden. Wir werden weiter Fachartikel veröffentlichen und unser Konzept differenzieren und Faltblätter gratis in der Welt verteilen. Und natürlich ist jedes Kind, jede Jugendliche und Erwachsene für sich mit dem Thema neu und kann sich informieren und Hilfe holen.

Unterstützung ist jetzt nötig

Die Corona-Zeit hat uns leider finanziell erheblich getroffen, da wir unsere zumeist ehrenamtlichen Angebote über unsere Fortbildungen finanzieren. So sind wir nun auf Spenden angewiesen und hoffen auf bessere Zeiten.

Persönlich würde ich mir v.a. wünschen, dass es uns gelingt unseren Online-Test zu standardisieren, so dass damit sichere Aussagen gegeben werden können. Bisher gibt es leider noch kein standardisierten Mutismustest in Deutschland. Dafür benötigen wir jedoch finanzielle Unterstützung.

Für die Zukunft

Mein langfristiger Wunsch ist, dass in den vielfältigen Ausbildungsberufen das Thema selektiver Mutismus zumindest angeschnitten wird. Gerade in der Ausbildung der Erzieher*innen ist dies besonders wichtig, weil im frühen Alter vieles verändert werden kann. Gerade auch der Übergang zur Schule ist entscheidend, weshalb auch in der Lehramtsausbildung ebensolche Fachkompetenzen erworben werden müssen. Hier ist immer noch ein großer Nachholbedarf, was das Thema Nachteilsausgleich betrifft.

Darüber hinaus sollten natürlich die Kinderärzt*innen informiert sein und alle Fachpersonen im Bereich Sprachtherapie über differenzierte Kenntnisse zur Therapie selektiv mutistischer Menschen verfügen. 

Ähnlich wie beim Stottern, ist die Information für das Umfeld sehr entscheidend. Als Mitmensch von selektiv mutistischen Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen gibt es viele Möglichkeiten sich hilfreich zu verhalten oder aber auch das Störungsbild zu manifestieren. das Umfeld hat eine immense Verantwortung.